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Foto: Literaturhaus Salzburg, creative commons licence by nc nd

Karl-Markus Gauß: Plädoyer für die wandernde Kulturhauptstadt

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Zsolt Bayer, der Ideologe der ungarischen Regierungspartei Fidesz und deren historisches Parteimitglied mit der Nummer Fünf, hat die Roma vor einiger Zeit als „Tiere“ bezeichnet, „unwürdig mit Menschen zu leben“. In Rumänien hat der letzte, im Westen wohl angesehene Staatspräsident Trajan Basescu verlangt, das Wort „Zigeuner“ wieder als offizielle Bezeichnung der Volksgruppe einzuführen, weil „Roma“ und „Romani“ zu ähnlich klängen, weswegen die anständigen Rumänen Gefahr liefen, außerhalb ihres Landes mit den dreckigen Roma identifiziert zu werden. Der tschechische Abgeordnete Jiri Sulc wiederum hat im Parlament in Prag gefordert, die Roma nach Haiti zu deportieren, und zwar, wie er höhnisch anfügte, als europäische Wiederaufbauhilfe für das durch das Erdbeben verwüstete Land: „Hilfe für Haiti – wir schicken 200.000 neue Haitianer.“

Die Hetze gegen die Roma hat im Osten Europas ein Ausmaß erreicht, wie es seit den großen Verfolgungen durch die Nationalsozialisten nicht mehr denkbar war. Und was ist bei uns, im Westen, in den sich viele derer, die nicht als Tiere behandelt oder nach Haiti ausgebürgert werden möchten, geflüchtet haben? Von Skandinavien bis Griechenland suchen die Regierungen nach Möglichkeiten, wie sich den Roma als einzigen Europäern das Recht nehmen ließe, sich innerhalb der Europäischen Union frei zu bewegen. Es ist der Pesthauch von „Sondergesetzen“, der aus diesen Bemühungen weht, Sondergesetzen, die nur für eine einzige Volksgruppe gelten sollen und über die historisch immer schon mittels Entrechtung der Weg zur Verfolgung frei gemacht worden ist.

In dieser Situation möchte ich einen Vorschlag aufgreifen, über den ich schon vor vielen Jahren mit dem für die Anliegen von Minderheiten so engagierten einstigen Grazer Kulturpolitiker Helmut Strobl hin- und her debattiert habe; er und ein um ihn gruppierter Freundeskreis hatten damals dazu einige kluge Konzepte ent-, jedoch aus mancherlei Gründen auch wieder verworfen. So obliegt es jetzt mir zu fordern, dass die Europäische Union, wenn es wieder darum geht, eine Kulturhauptstadt zu wählen, Originalität und Mut beweisen möge und sich auch bereit erweise, für ein Mal von ihren selbst gestellten Regeln abzuweichen: Erstmals soll keine bestimmte Stadt zur europäischen Kulturhauptstadt erkürt werden, sondern gewissermaßen eine wandernde Stadt, die Stadt der Roma. Was ist damit gemeint?

Es gibt zahllose Städte, berühmte und überregional kaum bekannte, die man zwar nicht einfach als Roma-Städte bezeichnen kann, in denen aber, von Spanien bis Bulgarien, ganze Stadtviertel fast nur von Roma bewohnt werden. In den allermeisten dieser Städte sind die Reviere der Roma entweder ungeplant durch raschen Zuzug der aus ihren einstigen Berufen und sozialen Sicherheiten gerissenen Roma entstanden; in anderen sind solche Viertel strategisch von der Stadtverwaltung ausgewählt worden, damit jene Stadtteile, die vorher über Generationen von Roma bewohnt wurden, großflächig abgerissen und einer profitablen städtischen Neuordnung zugeführt werden konnten. Und natürlich gibt es zudem, je weiter gegen Osten man in Europa kommt, Kleinstädte und Dörfer, in denen die Roma nicht am Rande größerer Gemeinden der Gadsche siedeln, sondern sie die Mehrheit stellen.

Wenn ich von der Stadt der Roma spreche, die zur europäischen Kulturhauptstadt gewählt werden möge, gehe ich also von einer Spannweite urbaner Architektur und urbanen Lebens aus, wie sie größer kaum sein kann: Sie reicht von Großstädten mit Roma-Vierteln bis zu Kleinstädten, in denen sich spezifische Traditionen der Bau- und Lebenskultur der Roma erhalten haben; sie reicht von kommunal hochproblematischen Zonen am Rande von Millionenstädten bis hin zu dörflichen Slums, die sich auf den vergifteten Böden aufgelassener, zerschlagener Industriekombinate gebildet haben; sie reicht von gelungenen Formen städtischer Integration mittels einer architektonisch innovativen und sozial verantwortliche Stadtplanung bis zum Wildwuchs von oft binnen wenigen Monaten entstehenden Dritteweltstädten inmitten und am Rande europäischer Metropolen.

Das Projekt benötigt die Phantasie, Sachkenntnis, das leidenschaftliche Interesse zahlloser Architekten, Stadtplaner und Soziologen und böte ihnen die Chance, mittels intensiver Recherche überhaupt erst einmal zu einer provisorischen Bestandsaufnahme dessen zu gelangen, was Wohnen und Hausen für Millionen Europäer bedeutet. Es böte sich die Gelegenheit, interdisziplinär zu neuen Konzepten urbaner Entwicklung zu gelangen und diese zu erproben. Dies trifft ausdrücklich auch auf jene Tausenden Slums zu, in denen so viele Roma hausen müssen, seitdem sie ihre Arbeit in den Industriebetrieben der kommunistischen Ära verloren haben. Die unhaltbaren Lebensbedingungen dort ließen sich, architektonische Einfallskraft und politischen Willen vorausgesetzt, mit vergleichsweise geringen Mitteln immerhin so weit verbessern, dass in diesen Orten die Menschen wesentlich besser leben könnten als jetzt. Nicht einmal um alle Slums steht es nämlich gleich schlimme!

Eine Voraussetzung allerdings ist zu beachten, ohne die alles schöne Planen zu gar nichts führen wird: Dass man nämlich nicht Gutes für die Roma tun kann, wenn man es nicht mit ihnen tut. Wer sich paternalistisch daran macht, ihnen den Fortschritt vor ihr Haus zu liefern und in ihren Ort zu setzen, der wird jämmerlich scheitern. Angeblich hat die Europäische Union in den letzten Jahren die wahrlich nicht geringe Summe von dreißig Milliarden Euro an die diversen Staaten ausbezahlt, damit diese es zur Förderung ihrer jeweiligen Roma-Bevölkerung verwenden. In welchen trüben Abwässerkanälen der Korruption sie auch versickert sind, bei den Roma selbst ist davon jedenfalls nicht viel angekommen. Aber auch dort, wo man wohlmeinend das Eine oder Andere für sie tun wollte, war jedes noch so schön ausgedachte Projekt zum Scheitern verurteilt, wenn es für die Roma gedacht war, aber ohne sie geplant und verwirklicht wurde. Die Roma bedürfen unserer Hilfe; sie bedürfen nicht der Entmündigung.

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Autor:
Karl-Markus Gauß
Jahrgang 1954, lebt als Autor, Kritiker und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“. Er hat u.a. mehrere Bände mit Reisereportagen veröffentlicht, die von den kleinen Nationalitäten Europas erzählen, sowie eine Serie von Journalen. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt und wurden mit etlichen Preisen ausgezeichnet.

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4 Kommentare zu “Karl-Markus Gauß: Plädoyer für die wandernde Kulturhauptstadt

  1. Pingback: die wandernde kulturhauptstadt brächte europa weiter | bernhard jenny bloggt

  2. Zu Beginn möchte ich Herrn Gauß zu einem sehr gelungenen Beitrag gratulieren! Sehr wichtig und richtig welche Thematik hier aufgegriffen wird. Wie in dem Artikel schon beschrieben, geht es nicht nur darum einer Volksgruppe die seit jäh her zu Europa gehört aber nicht so behandelt wird eine Platform zu bieten, sondern die Realitäten einer der Mobilität verschriebenen Lebensform zu untersuchen. Im besten Falle wird dann erkannt, dass ein „reisendes“ Volk die Verständigung und den menschlichen Informationsaustausch in der ganzen Europäischen Union nur bereichern und fördern würde. Mobilität ist ohnehin gern genutztes und propagiertes Schlagwort des „modernen Europas“, jetzt sollte man hier auch taten folgen lassen.

    Man vergesse nicht den Friedensnobelpreis welchen die Europäische Union 2012 erhalten hat. Diesen darf man nicht vergessen und erst zukünftige Taten werden zeigen wie verdient er wirklich war. Denn wie sollen wir diesem sogenannten „Flüchtlingsansturm“ bewältigen, wenn wir bereits daran scheitern eine in Europa solange „heimische“ Volksgruppe einzubinden? Auch deshalb ist es so wichtig zu sehen und zu dokumentieren in welchen von den Staaten der Union meist aufgezwungenen Lebensumständen (in diesem Falle die Roma) leben. Diese Fehler dürfen und können bei zukünftigen Integrationsprozessen nicht erneut gemacht werden!

  3. fragwürdig und verwerflich sind die Umstände die zu dieser Entmündigung geführt haben. eine Entmündigung die sich letztendlich in Ausschließung und Rückzug der Ausgeschlossenen geführt hat.

    genau diese Ausschließung trägt auch das Potential des oben vorgeschlagenen Projekts in sich: der Kontrast der sich dabei herausgebildet hat, würde vermutlich aufschlussreicher, bestehende Konventionen in Europa in Frage stellen, als es ein `innerhalb des offiziellen europäischen Systems` entwickeltes Projekt jemals tun könnte.

    die vom Tellerrand gestoßenen, könnten uns sicher am meisten über die dortige Aussicht schildern

  4. An sich hat die Überlegung die Dörfer, Slums, Stadtviertel und Kleinstädte, die von Roma bewohnt werden zu einer Art „abstrakter“ Kulturhauptstadt zu erklären gleich mehrere Vorteile.
    Zum Einen würde die Ernennung zur Kulturhauptstadt der Situation ,in der sich die Roma heutzutage befinden, wieder neue Aufmerksamkeit schenken. Was also in den meisten Köpfen sicher schon bekannt war, aber vergessen wurde, würde neue Brisanz erhalten. Eine Aktualität der Problematik zu schaffen fördert das soziale, gesellschaftliche Bewusstsein, was wiederum zu erhoffter Problemlösung führen kann oder zumindest Kritik an der Wohnpolitik neu entfacht.
    Zum Anderen würde das bedeuten, dass Architekten, Stadtplaner, Soziologen etc. sich der Aufgabe gegenüberstehen sehen, die Grauziffer an tatsächlichen Siedlungen, Slums und sonstigen urbanen Gebilden und die Lebensqualität der Bewohner vor Ort zu ermitteln.

    Offensichtlich finde ich den Einwand im Text „Die Roma bedürfen unsere Hilfe; sie bedürfen nicht der Entmündigung.“ Ich denke, dass die dreißig Milliarden Euro an Geldern, die geflossen sind um sie zur Förderung der Roma-Bevölkerung zu nutzen wohl zu verfrüht ausgezahlt und falsch verwendet wurden. Allgemein ist doch bekannt, dass bei einer bereits bestehenden urbanen Struktur wert auf Kommunikation gelegt werden muss. Ein geplanter Auf- oder Ausbau solcher Viertel sollte immer in Rücksprache mit den Bewohnern vor Ort ausgeführt werden, insbesondere dann wenn es kein kapitalistisches Wohnprojekt sondern eine Hilfsprojekt ist. Hier gilt wohl vielmehr die Regel Hilfe zur Selbsthilfe stellen.

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